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TEIL 3: NEBENERKENNTNISSE

Das "Rilke-Buch" 

Beim Gespräch mit Tatjana Melnik (Foto 2 li) kam das Gespräch auf ein ungewöhnliches Buch, das sogenannte "Rilke-Buch", das heute in der Abteilung für seltene Bücher in der wissenschaftlichen Dobrolubov-Bibliothek in Archangelsk aufbewahrt wird. Eine ältere Bibliothekarin erzählte die Geschichte des Buches: beim Durchstöbern der Regale fiel ihr mal ein Buch auf, das einen handschriftlichen Inhalt in einer fremden Sprache hatte. Dieses Buch gab es schon lange in dieser Bibliothek, es war ordentlich registriert, stand aber versteckt und unbeachtet in einem Regal. Es stellte sich heraus, dass dieses Büchlein 1946 von einem deutschen Kriegsgefangenen in einem Kriegsgefangenenlager in Archangelsk beschrieben worden war. Dieser Kriegsgefangene durfte offensichtlich eine (Lager-?)Bibliothek besuchen. Er besorgte sich ein leeres Büchlein und schrieb aus dem Gedächtnis eine Rilike-Geschichte hinein. Nach seiner Freilassung schenkte er es der Bibliothek. Nach dem Fund in der Bibliothek suchte man den ehemaligen Kriegsgefangenen in Westdeutschland und fand ihn auch tatsächlich. So weit das Erlebnis in der Bibliothek in Archangelsk. 
Eine Recherche nach unserer Rückkehr nach dem Rilke-Titel führte zu folgendem Ergebnis: Die korrekte Bezeichnung der Jugenddichtung Rilkes lautet "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" (geschrieben 1899, veröffentlicht 1904). Rilke schrieb selbst über sein Werk:
"... der Cornet war das unvermutete Geschenk
einer einzigen Herbstnacht, in einem Zuge
hingeschrieben bei zwei im Nachtwind
wehenden Kerzen; das Hinziehn der Wolken
über den Mond hat ihn verursacht..."
R. M. Rilke am 17.8.1924 an H. Pongs

In der Lliteraturkritik heißt es dazu, dass der "Cornet" zwischen 1912 und 1945 zum "Kultbuch in den Weltkriegen" geworden war und wohl Rilkes meistgelesene Geschichte in dieser Zeit (s. hier). Der Heldentod wird erotisch verklärt und trifft damit den Zeitgeist während des Krieges. Deshalb war wohl auch der Kriegsgefangene Harald Teufer in der Lage, die Geschichte aus dem Gedächtnis zu reproduzieren.  

Fortsetzung: Das ehemalige Kriegsgefangenenlager nördlich von Sulfat[Bk 01-10-09]  

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Das Projekt wurde gefördert von der Stiftung
"Deutsch-Russischer Jugendaustausch"
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 Links
-Originalgeschichte Rilkes
-Bibliothek "N.A. Dobroljubow" Archangelsk


Am 30. Januar 1997 hatte die Zeitung
"Pravda Severa" über Harald Teufer berichtet.
In der Ausgabe vom 9. Oktober 1997 wurden
Erinnerungen von Jevgenija Jemeljanovna
abgedrucjkt, die als Krankenschwester im Lager Sulfat gearbeitet hatte (s. Artikel über das Lager nördlich von Sulfat).
Offensichtlich war Harald Teufer ebenfalls Insasse dieses Lagers gewesen. Die Autorin war 4 Jahre lang als Krankenschwester dort tätig, also während seiner gesamten Existenz. Ihre Erinnerungen sind die Erinnerungen einer Zivilangestellten, also
haben einen anderen Tenor als die des Kriegsgefangenen Harald Teufer.
Frau Jemeljanowna arbeitete im Apothekenlager des Lagers Nr. 211. Sie erinnert sich, dass dieses Lager
ca. 5000 Gefangene unterschiedichster Nationalität beherbergte. Das Lager besaß auch Filialen in der Umgebung.
Die Gefangenen lebten in großen Baracken. Die Arbeitsbataillone wurden von Häftlingen je einer Nation gebildet. Zwischen den Bataillonen seien kaum Beziehungen
gewesen. Gefangene dieses Lagers haben auch Häuser in Archangelsk und Sewerodwinks gebaut. Nach Meinung
von Frau Jemeljanowa sei die Verpflegung der Gefangenen gut gewesen. Sie hätten dreimal pro Tag Essen erhalten
und seien damit besser versorgt gewesen, als mancher Bewohner der umliegenden Dörfer. Sie erinnert sich daran, dass einige Deutsche Ausweise gehabt hätten, die zum
Verlassen des Lagers ohne Bewachung berechtigten. Ende 1944 sei Typhus im Lager ausgebrochen. Es starben täglich Gefangene. Wo diese begraben wurden sei ihr nicht bekannt. Als die Rote Armee auf deutschem Territorium kämpfte kamen große Kolonnen Gefangener in den Lagern an. Die Deutschen, so bemerkt sie, hätten immer wieder versucht zu fliehen, was ihnen mitunter gelang.
Den russischen Zivilangestellten war es strengstens verboten, Kontakt zu den Gefangenen aufzunehmen. Trotzdem
reisten nach Lagerauflösung einige ehemalige russische Angestellte nach Ungarn bzw. Rumänien und heirateten ehemalige Häftlinge des Lagers.
Im Frühjahr 1948 wurde das Lager aufgelöst. Ein kleiner Teil der Gefangenen
kam in andere Lager. Die meisten wurden entlassen. Unter den Entlassenen
sei auch Harald Teufer gewesen, so Jevgenija Jemeljanovna.

 

Quelle: Pravda Severa vom 09.10.1997,

S. 11