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TEIL 2: WAS WIR IN ARCHANGELSK RECHERCHIERT HABEN ...

Durch die Auskunft des MWD Archangelsk (vergleichbar mit einer Abteilung Inneres) liegt definitiv fest, dass Ottwalt 1941 in ein Arbeitslager des Kuloi Lag eingewiesen worden war (in welchem Lager er sich von 1939 (Ende der U-Haft) bis 1941 befand ist noch unklar). Es ist anzunehmen, dass es das Lager beim Dorf Talagi war. Über dieses Lager gibt es einige Informationen. J. M. Gratschewski (Häftling des Lagers Jaglinlag bei Molotowsk (heute Sewerodwinks)) schreibt in seinen nicht veröffentlichten Erinnerungen "Dixi", dass er nach einem verratenen Fluchtversuch nach Talagi, in ein Lager mit einem verschärften Haftregime, verlegt wurde. Aus anderer "Erinnerungsliteratur" stammt der Hinweis, dass in Talagi keine Kriminellen sondern nur politische Häftlinge untergebracht waren. Weiter heißt es, dass es eine Baracke mit Häftlingen der Kategorie III gegeben habe, also Häftlingen, die körperlilch nur noch zu den einfachsten Arbeiten imstande waren. 

- War Ottwalt als politischer Häftling einer Feindmacht, die mit der SU im Kriegszustand war, in Talagi?
- War er als Strafe in ein Arbeitslager mit verschärftem Haftregime eingewiesen worden?
- War er als "arbeitsunfähiger" politischer Häftling der Kategorie III nach Talagi gekommen? (Ottwalt war ein Intellektueller, der nach Aussagen seiner Verwandten nie ein Sportsmensch gewesen war)

Dies alles ist möglich, aber es sind eben nur Vermutungen.  Im Januar 1941 ist Ottwalts Ehefrau Waltraut auf Initiative ihrer Schwester aus der Sowjetunion ausgewiesen und an die GESTAPO übergeben worden. Am 22. Juni 1941 überfiel Hitlerdeutschland die Sowjetunion. Im November des gleichen Jahres wäre die fünfjährige Haftstrafe Ottwalts beendet gewesen. Unter den gegeben Bedingungen hätte die Sowjetunion wohl keinen politischen Häftling aus Deutschland freigelassen. Deshalb wohl das zweite Urteil, dass in Archangelsk im August 1941 (also kurz nach Kriegsbeginn) gefällt wurde (das erste Urteil wurde in Moskau gefällt). Zur Staatsangehörigkeit Ottwalts zu diesem Zeitpunkt ist folgendes zu sagen: 1936 fand die Ausbürgerung aus Deutschland statt.
- Wurde Ottwalt in der Sowjetunion eingebürgert? Es gibt keinerlei Hinweise darauf. War Ottwalt während seiner Haft ein Staatenloser?
In seinen letzten Lebensmonaten wurde Ottwalt in ein Lager überwiesen, dass sich in der Stadt Archangelsk befand. Aus verschiedenen Quellen ist ersichtlich, dass Häftllinge selten länger als ein Jahr in ein und dem gleichen Lager verbrachten. Der in der Archivauskunft angegebene Todesort könnte das noch heute existierende Haftkrankenhaus am "Lewyi Bereg" sein. In den Erinnerungen von Jevgenija Jemeljanovna wird diese Krankenhaus als Krankenhaus für tuberkuloskranke Gefangene aus den verschiedenen Lagern beschrieben.
- Hatte Ottwalt in seinen letzten Lebenswochen Tuberkulose und wurde deshab dort eingewiesen?
- War das heute existierende Gefängnis an dieser Stelle damals auch eine Art Hospital für Häftlinge? War Ottwalt in einem solchen Zustand, dass er dort eingeliefert werden musste?
Zum "Häftlingsstatus" Ottwalts sollte folgendes beachtet werden: Ottwalt war in Deutschland ausgebürgert worden und auf Einladung in die Sowjetunion gekommen.  Er stammte aus einem Land, dass sich mit der Sowjetunion im Kriegszustand befand. Er war weder Kriegsgefangener noch Internierter, er war politischer Häftling, der nur der sowjetischen Gesetzgebung und "Rechtsprechung" unterlag, also keinerlei internationalen Konventionen wie die Kriegsgefangenen (Hager Landkriegsordnung von 1907). Wie russische Gesprächspartner betonten, hielt sich die Sowjetunion durchaus an diese Landkriegsordnung. Kriegsgefangene, die während der Lagerhaft starben, wurden - wie gefordert - in Einzelgräbern mit Angabe des Namens oder einer indentifizierenden Nummer bestattet. Dies macht es bis heute möglich, den Bestattungsort zu finden. Diese Toten wurden auch in die Friedhofsbücher eingetragen. Ganz anders bei politischen Häftlingen. Die von uns hinter dem Dorffriedhof von Talagi gefundenen einheitlichen Holzgräber im Wald (z. T. mit Blechmarken versehen) lassen den Schluss zu, dass hier Kriegsgefangene aus dem Lager Talagi begraben wurden.  Deshalb auch die Archivauskunft zu Ottwalt, dass die Toten des ArchPromITL auf drei verschiedenen Friedhöfen der Stadt begraben wurden. In keinem Friedhofsbuch wurden diese Toten eingeschrieben. Also lässt sich nicht mehr feststellen, wo genau der Bestattungsort von Ernst Ottwalt sich befindet. Wie uns weiter mitgeteilt wurde, sind wohl die Akten der politisch "Repressierten" noch immer unter Verschluss. Warum eigentlich? Anders liegt die Sache bei den Kriegsgefangenen.

 Wichtig ist die Frage: Wurde Ernst Ottwalt rehabilitiert? Diese Frage stellten uns auch unsere russíschen Gesprächspartner. Aus den Veröffentlichungen ist dies nicht ersichtlich. Nach sowjetischer und jetzt russischer Rechtsprechung kann eine solche Rehabilitierung nur ein Verwandter beantragen. Dazu werden die Urteile der damaligen Häftlilnge eingesehen (zum Fall Ottwalt befinden sich diese Akten - einschließlich der Verhörprotokolle - beim FSB (staaltlicher Sicherheitsdienst) in Moskau (erstes Urteil) und in Archangelsk (zweites Urteil)).
- Können wir als deutsche Schule eine Archivauskunft beim FSB in Moskau und in Archangelsk beantragen? Könnte uns unsere Partnerschule Nr. 14 in Archangelsk dazu behilflich sein? Nach Auskunft russischer Stellen steht der Familie des zu Unrecht verurteilten heutzutage auch in Russland eine finanzielle Haftentschädigung zu. - Findet man noch Verwandte? Ernst und Waltraut Nicolas hatten keine Kinder. Es existiert ein dreibändigs russisches Werk mit Kurzbiographien politischer Opfer der Repressionszeit (dritter Band aus dem Jahre 2004). Ein kurzer Blick in den Band 2 zeigte, dass Ottwalt nicht darin vorkommt. Band 3 enthält eine erste Ergänzung. Auch darin findet man den Namen Ottwalt nicht. Wenn die Unschuld Ottwalts nachgewiesen werden kann, sollten wir uns unbedingt dafür einsetzen, dass sein Name mit aufgenommen wird.  Sowohl Memorial Archangelsk als auch die historische Abteilung des Gebietsmuseums Archangelsk, die in einer Abteilung Gegenstände aus dem Lager Kuloi Lag zeigt, sind nun über den "Fall Ottwalt" informiert und versprachen uns, Mitteilung zu machen, falls es neue Erkenntnisse gibt. In welchen Archiven könnte weiter recherchiert werden? Da das MWD in Archangelsk zumindest "eine Karteikarte" zum "Fall Ottwalt" hat, das ein Extrakt anderer Akten darstellt, kann man davon ausgehen, dass beim FSB die alten "Gerichtsakten" noch vorhanden sind. Des Weiteren wurden wir auf ein Archiv "OFINS" hingewiesen, dass die Lagerakten archiviert hat. Nach damaliger Gesetzgebung mussten die Akten ausländischer Häftlinge ohne zeitliche Begrenzung aufbewahrt werden. Bei russischen Gefangenen endete die Aufbewahrungsfrist mit dem 75. Lebensjahr des Gefangenen. Jede neue Erkenntnis wirft weitere Fragen auf. Wir als Schule können durchaus den Stein zum Rollen bringen. Die Frage nach der Rehabilitierung hängt von, wie oben gesagt, von Verwandten ab. Wir können uns bemühen, diese zu finden. Wir können uns dafür stark machen, dass Ernst Ottwalt in das Auskunftsbuch über die Opfer der Repression mit aufgenommen wird. Quellen:
- Gespräch mit Tajtana Melnik, Mitarbeiterin von Memorial Archangelsk, Autorin einer Broschüre über das Lager Jagrinlag (unveröffentlicht)
- Veröffentlichungen der Erinngerungen Gratschewskis in der Zeitung "Sewernyi Rabotschi" im Juli und August 1991
- Dokumentation und Aufsätze von Memorial Deutschland e.V. zum GULAG-System in der UdSSR
- Gespräch mit zwei wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen der historischen Abteilung des Gebietsmuseums Archangelsk, die sich mit dem Lagersystem beschäftigt haben; ein längerer Artikel über das Lager Kuloi Lag aus dem Jahre 2002 von W. A. Mitin liegt als Kopie vor (ein Gespräch mit der Autorin war zwar geplant, kam aber leider nicht zustande) 



Quelle: wikimapia.org

Fortsetzung
: Nebenerkenntnisse[Bk 30-09-09]

 

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Das Projekt wurde gefördert von der Stiftung
"Deutsch-Russischer Jugendaustausch"
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System der Arbeits-, Straf- und Erziehungslager in der UdSSR: 1923 bis ca. 1960 gab es in der Sowjetunion ein mehr oder weniger dichtes Netz von Lagern, in denen Verurteilte außerhalb des Gefängnissystems untergebracht waren und harte Arbeit zu leisten hatten. Die Veranwortlichikeit für diese Lager änderte sich ständig. Lager wurden gebildet, umbenannt, anderen Lagern zugeordnet, verselbstständigten sich und unterschiedlichen Ministerien zugeordnet (nicht alle Lager während der Stalinzeit unterstanden z. B. dem NKWD). In der von Andreas Mytze in den 70er Jahren recherchierten Biographie von Ernst Ottwalt heisst es, dass seine letzte Adresse "Kuloi Lag, Dorf Talagi, Stadt Archangelsk" gewesen sei. In der 2001 in Archangelsk herausgegebenen Enzyklopädie "Pomorje" heißt es zum Stichwort "Kuloi ITL NKWD 1937 - 1960 auf S. 214: gebldet am 02.08.1937 als ein von zwölf Lagern, in denen die Häftlinge in der Holzverarbeitung eingesetzt waren. Gab es 1937 211 Häftlinge,so wuchs die Zahl 1938 auf 10618 (01.04.38). Die äußerst harte "Waldarbeit" endete für nicht wenige Häftlinge mit dem Tod aus Erschöpfung, Hunger oder Krankheit. Die Arbeitszeit betrug 10 h ohne Mittagspause.  Die Häftlinge wurden in drei Kategorien nach ihrer Arbeitsfähigkeit eingeteilt: I mit Zuteilung von 800 g Brot (höchste Kategorie - volle Arbeitsfähigkeit), II 500 g Brot und III mit nur 400 g Brotzuteilung pro Tag. Bei Nichterfüllung der Arbeitsnorm konnte die Brotzuteilung auf 300 g gesenkt werden. Im Lager fand eine "politische" und "kulturelle" Erziehung statt. Es wurden auch Filme gezeigt, künstlerische Zirkel gebildet, Konzerte organisiert. Die Erfüllung der Arbeitsnorm stand allerdings an oberster Stelle und wurde mit aller Härte durchgesetzt. Wie in allen GULAGS gab es auch hier den "sozialstischen Wettbewerb". So heißt es, dass 1939 60 % der Häftlinge am Wettbewerb teilgenommen hätten. Die Häftlinge wurden in Brigaden eingeteilt, wobei der Brigadier auch ein wegen krimineller Delikte einsitzender Häftling sein konnte, der in "seiner " Brigade politische Häftlinge anführte. Der eigentliche Antrieb zur Arbeit war der Hunger. 1938 lag die Sterblilchkeit unter den Häftlingen bei 25 %. In gleichen Jahr wurde aber von der Lagerleitung die Übererfüllung des ´Planes mit 108 % weitergemeldet.
1940 wurde in Folge einer Umstrukturierung die Bildung von Arbeitskolonien festgelegt. Aus dem Kuloi ITL (= Besserungs- und Arbeitslager) wurde zusätzlich eine Arbeitskolonie (Kuloi ITLiK).  1940 gehörten zum Kuloi Lag 17879, 1941 23901 Häftlinge; rechnet man die Arbeitskolonien der Minderjährigen hinzu so steigt der Häftlingsbestand auf 31321.
Das "Hauptlager" befand sich am Fluss Kuloi im Innern des Archangelsker Gebietes. Zugeordnete "Filialen" gab es unter anderem auch nahe des Dorfes Talagi bei Archangelsk.

Zu den Fotos:
1 Ortseingang Talagi bei Archangelsk
2 alte Baracken auf dem ehem. Lagergelände
3 dto.
4 Im Wald zwischen Friedhof und ehem. Lager
5 dto.
6 Gebietsmuseum
7 Gegenstände aus dem KuloiLag
8 dto.
9 dto.
10 dto.

Das "Virtuelle Gulag-Museum" der Organisation Memorial verweist auch auf Ausstellungsgegenstände im Gebietsmuseum (Heimatmuseum) von Archangelsk