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DAS LANGE LEBEN DES HARRY LICHTENSTEIN
TEIL 1

Harry Lichtenstein wurde 1922 in einer Halleschen jüdischen Familie geboren. Sein Großvater kam ursprünglich aus einer polnischen Stadt, die zu jenem Zeitpunkt zu Russland gehörte. Die Familie wohnte in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrunderts in der Gr. Märkerstr. 7, der Gaststätte "Grober Gottlieb" gegenüber. Herr Lichtenstein erinnert sich bis heute daran, dass er zu seiner Schulzeit im Stadtgymnasium - also in der NS-Zeit - beim Verlassen des Wohnhauses am Gaststättenfenster ein Schild las, das Juden den Besuch dieser Gaststätte untersagte.

Herr Lichtenstein und sein Hallenser Freund Herr Ronniger gaben uns einen wichtigen Buchhinweis: In dem Buch "Erinnerungen" von Jürgen Reinhold (Klartext, Essen 2000; J. Reinhold wurde 1923 in Halle geboren) findet man nicht nur ein Schilderung des Schulunterrichts der zwanziger und dreißiger Jahre in Halle sondern auch Informationen zur gemeinsamen Schulzeit mit Harry Lichtenstein. Beide waren nur einige Jahre auf dem Stadtgymnasium und legten dann ihr Abitur an verschiedenen Schulen ab. Lassen wir nun Jürgen Reinhold aus seinen "Erinnerungen" zu Wort kommen: "1929 kam ich zur Schule, wie damals üblich nach den Osterferien. ... Zur Ausrüstung gehörten ein Ranzen und eine Brottasche zum Umhängen, ferner eine Schiefertafel mit Griffel und Schwamm zum Löschen der Tafel. Wir waren etwa 35 'ABC-Schützen' in der Herrmann-Schule, die auch Neumarktschule genannt wurde. Knaben- und Mädchenschule lagen, durch einen Zaun getrennt, nebeneinander. ... Die Zusammensetzung der Klasse war nicht homogen. Die verschiedensten Schichten waren vertreten. Etwa 20 Kinder stammten aus bürgerlichen Familien des Mittelstandes, einige aus Arbeiterfamilien ... oder aus dem sogenannten Proletariat. ... Drei waren Söhne von Hochschullehrern. Es gab wohl nur wenig Kinder, deren Väter Akademiker waren. Am Ende des vierten Schuljahres verließen 22 Schüler, also rund zwei Drittel der Klasse, die Schule, um auf die Mittelschule oder eine Oberschule überzuwechseln. Fast alle Schüler waren, im Zentrum des Wirkungsbereiches von Martin Luther, evangelisch. Ein Klassenkamerad, Harry Lichtenstein, war Jude. Er wurde etwas später von seiner Mutter zur Einschulung gebracht. Ich hielt ihn zunächs für ein Mädchen, weil er einen langen Kittel trug, der etwa so lang war wie seine kurzen Hosen. ... Einmal in der Woche hatten wir 'Baden'. Im Keller der Schule gab es Brauseräume. Wir mussten ein Handtuch mitbringen. Unter Aufsicht des Lehrers hatte sich jeder unter der wamren Brause zu waschen. ... Aber es gab, wohl aus Gründen der Gleichbehandlung, keine Befreiung. Für mich war das eine Art von 'Sozialkontakt' eigener Art. Die in allen Schulräumen ... stehenden Spucknäpfe dienten der Hygiene nur bedingt. ... Dabei spielte die Prügelstrafe, jedenfalls bei den Jungen, eine wesentliche Rolle, ohne dass jemand etwas dabei fand. Auch in der Familie und in der Kirche im Konfirmandenunterricht, war das in unterschiedlichen Abstufungen so. ...Während meiner gesamten Volksschulzeit, und sogar noch in der Unterstufe  des Gymnasiums, gab es mehr oder weniger dramatische oder sensationelle Prügelszenen ... Wenn sich ein Lehrer nicht durchsetzen konnte oder sich ein sehr schwerer Disziplinarverstoß ereignet hatte, wurde der Delinquent vom Hausmeister mit einem besonders dicken Knüppel dem Rektor vorgeführt, der die Strafe höchst persönlich vollzog. ... In der Volksschule war ich nicht unter den 'Leidtragenden'. Erst auf dem Gymnasium erteilte mich das Schicksal auch. ... Zunächst lernten wir Druckbuchstaben, später lateinische und schließlich deutsche Schrift nach dem System 'Sütterlin'. ... Im März 1933 schrieben wir, die wir auf die höhere Schule oder Mittelschule überwechseln sollten, einige Prüfungsarbeiten (Diktat, Aufsatz und Rechenarbeit). Die Prüfungskommission am Stadtgymnasium Halle, dem späteren 'Christian-Thomasius-Gymnasium', befand mich für geeignet. Auch einige andere Klassenkameraden schafften es. Meine Mutter ging mit mir zu der Aufnahmezeremonie in die große Aula, wo die Namen derer verlesen wurden, die noch mündlich geprüft werdne mussten. ... Mein Vater ging voller Stolz mit mir in die Stadt und kaufte mir die weiße Schülermütze des Stadtgymnasiums." [S. 32 - 59; Abschnitt "Schulzeit in Halle (Saale) 1929 - 1936)]

Zum Unterricht am Stadtgymnasium heisst es bei Reinhold: "Der Unterricht am Gymnasium war sehr gut: Intensiv und systematisch. Wir erhielten hier das Rüstzeug für die ganze weitere Schulzeit. Die lateinische Sprache fand ich faszinierend ... In allen anderen Fächern wie Mathematik und Deutsch wurden die neuen lateinischen Grundbegriffe vermittelt und erklärt. In Biologie lernten wir zunächst ein Bestimmungsschema, an Hand dessen dann die einzelnen Tiere und Pflanzen durchgenommen wurden. In Deutsch galt es, lange Schachtelsätze mit den entsprechenden lateinischen Ausdrücken zu gliedern und zu bestimmen. Die Interpunktionsregeln wurden gnadenlos gepaukt. Aber wir mussten auch viele Gedichte auswendig lernen wie .. 'John Maynard'. Der Geschichtsunterricht begann traditionell mit der griechischen und römischen Geschichte. Typischerweise diktierte uns aber der Geschichtslehrer die Reihe der preuischen Hohenzollern-Könige von Friedrich I. bis zu Wilhelm II. zur Aufnahme ins Geschichtsbuch. Das müsse ein preußischer Gymnasiast von Anfang an wissen. ... Im Musikunterricht über wir 'Das Lied von der Glocke' (nach Schiller) ein, das anlässlich einer Schulfeier vorgetragen wurde. ... In Sexta oder Quinta (5. oder 6. Schuljahr) erlebte ich ein Schulfest im nahegelegenen Bad Lauchstädt, wo Schüler der Oberstufe aus 'ausgeliehene' Schülerinnen des Lyzeums in dem von Goethe gegründeten kleinen Theater ein Stück spielten, dessen Titel ich vergessen habe ... Wir Kinder erlebten die Übertraung [Bk: gemeint sind Übertragungen von Reden Hitlers im damaligen deutschen Rundfunk] im Rahmen einer Schulfeier. Man nannte die nun immer öfter vorkommenden Ereignisse 'Gemeinschaftsempfänge'." Der Autor zitiert des Weiteren einen Tagebucheintrag seiner Mutter zum sogenannten "Tag von Potsdam" am  21. März 1933, wie dieser sich für den Sohn in Halle abspielte. "Am 21. März war der große deusche Tag. Das war eine rechte Erquickung nach all diesen Jahren. Jürgen war von früh bis spät abends unterwegs [Bk: der Sohn Jürgen war 10/11 Jahre alt und Schüler des Stadtgymnasiums]. Erst um 12 Uhr Schulfeier, bei der durch das Radio die ganze Potsdamer Feier übertragen wurde. Alle Geschäfte ware geschlossen, damit jeder teilnehmen konnte. Um 2 Uhr gingen wir dann durch die beflaggten Straßen in den Film 'Der Choral von Leuthen'. ... Abends dann der große Fackelzug, an dem 25000 Menschen teilnahmen. Wir standen auf dem Hallmarkt, wo alle aufmarschierten und die Reden gehalten wurden. Um 10 Uhr war unser Bürschle so müde, daß wir schon vor Schluss nach Hause gingen. Es war so ein schöner Tag, wie wir ihn seit dem Kriege in seiner Größe nicht mehr erlebt hatten." [zitiert nach der unten angegebenen Quelle]
Zur Rolle des Buches "Mein Kampf" von A. Hitler lesen wir bei Reinhold: "In dieser Zeit wurde 'Mein Kampf', gleichsam als Bibelersatz, zu offiziellen Anlässen wie Hochzeiten, auch Konfirmationen und vergleichbaren Feierlichkeiten, verschenkt. ... Nach meiner Meinung haben die meisten der so Beschenkten aber nicht mehr als einen Blick in die 780 Seiten des Buches getan ... In der Schule war es keineswegs Pflichtlektüre. In unserem Unterricht ist es nicht behandelt worden [Bk: Reinhold war von 1933 bis 1936 am Stadtgymnasium und ging dann mit der Familie nach Gießen]." Zur Reflexion der Ergebnisse des I. Weltkrieges im Unterricht am Stadtgymnasium schreibt der Autor: "Die Deutschen erhofften sich also von Hitler die Beseitigung dieses als Schmach empfundenen Friedensvertrages [Bk: .. von Versailles] , den man in Deutschland auch als 'Diktat' bezeichnete. Unser Geschichtslehrer veranlasste uns, unser Geschichtsbuch entsprechend zu korrigieren." [S. 47]
Zum Schulleben heisst es an anderer Stelle weiter: "In der Schule merkten wir an der Einführung eines 'Staatsjugendtage' dass sich etwas veränderte: Am Samstag fiel die Schule aus. Statt dessen war 'Dienst" bei der Hilter-Jugend. Die weißen Schülermützen unseres Gymnasiums wurden bald als 'Spießerdeckel' verunglimpft und damit verdrängt. Wie zu lesen ist, waren die Mützen 1903 anlässlich eines Besuches des Kaiserpaares in Halle eingeführt worden, wurden also nur 30 Jahre getragen ... Nachme allmählich immer mehr Klassenkameraden in Jungvolk-Uniform in der Schule erschienen, wollte ich auch 'dabei sein', obwohl damals noch kein Zwang hierzu bestand" [S. 49f.]
Jürgen Reinhold geht in seinen "Erinnerungen" noch einmal direkt auf seinen damaligen jüdischen Mitschüler Henry Lichtenstein ein: "Bemerkenswert aus dieser Zeit ist für mich das Schicksal meines jüdischen Klassenkameraden Harry Lichtenstein, mit dem ich schon in der Volksschule zusammen war. Dort gab es wohl noch keine antisemitischen Äußerungen. Für uns Kinder spielten solche Fragen keine Rolle. Insbesondere für mich nicht. ... Auf dem Abschiedsphoto unserer Klasse [Bk: von der Volksschule] ist Harry sogar an bevorzugter Stelle in der Mitte der ersten Reihe zu sehen. Nach Übertritt ins Stadtgymnasium, die ja zeitnahe mit Hitlers Machtübernahme zusammenfiel, wurde die Situation der Juden, und damit auch für Harry, sofort schlechter. ... Mir ist hierzu ein Ereignis besonders in Erinnerung geblieben. Auf dem Heimweg gingen wir meist in kleinen Gruppen nach Hause. In der Geiststraße überholte uns an einer Straßenkreuzung im Laufschritt Harry Lichtenstein. Er rief uns zu, dass er von einem Klassenkameraden verfolgt würde, der ihn verprügeln wolle. Wir möchten ihn doch nicht verraten. Dann stürzte er in einen Hauseingang und versteckte sich dort. Kurz darauf erschien der Verfolger und fragte uns, ob wir Harry gesehen hätten. Das verneinten wir. Darauf setzte er seine Jagd fort. Harry tauchte nun wieder aus seinem Versteck auf, rief uns erleichtet zu: 'Ich danke euch!', drückte uns die Hand und lief in der Gegenrichtung davon. Seinen gehetzten Gesichtsausdruck habe ich bis heute nicht vergessen." [S. 55]
Reinhold erinnert sich dann noch an einen Vorfall in einer Lateinstunde beim Lehrer Karl Achtzehn (genannt Kalle). Harry Lichtenstein hatte einen Wecker in einem Papierkorb versteckt der im Unterricht zu klingeln anfing. Der Lehrer verprügelte ihn darauf mit einem Rohrstock vor der Klasse und den Worten "Du verdammter Judenbengel!".
1936 wechselte Reinhold die Schule. Er schreibt in seinen "Erinnerungen" weiter: "So erschwand wohl eines Tages auch Harry Lichtenstein aus der Schule. Da wir Ostern 1936 nach Gießen zogen, habe ich das nicht mehr selbst erlebt [Bk: Harry Lichtenstein floh 1938 aus Halle nach Paris]. Ich fürchtete zunächst, dass ihn sein Schicksal durch die Judenverfolgung erteilt hätte. Im Jahre 1967 veranlaßte ich eine Suchaktion bei "The Jewish Agency - Search Bureau for Missing Relatives" in Jerusalem ... Um so überraschter war ich, als bei der ersten Schulfeier nach der Wiedereröffnung unseres Gymnasiums im April 1993 in Halle [Bk: das Christian-Thomasius-Gymnasium fühlte sich seit seiner Gründung 1991 dem Stadtgymnasium verpflichtet und gab eine Broschüre "125 Jahre Stadtgymnasium" heraus und führte zu dem von J. Reinhold angegebenen Termin eine Festveranstaltung in der Aula der Schule durch] zu hören war, dass Harry Deutschland noch rechtzeitig hatte verlassen können und heute in Paris lebte. Ich nahm sofort schriftich und telefonisch Kontakt zu ihm auf. Harry und seine Frau Jeanette luden uns nach Paris ein, und so konnten wir uns am 8.9.1994 nach fast 60 Jahren auf dem Gare du Nord in die Arme schließen." [S. 56]

Ein letzter Satz in den "Erinnerungen" ist nochmal der Schule gewidmet. Jürgen Reinhold, der Mühlweg 4 wohnte, bemerkt, "an andere Klassenkameraden des Gymnasiums in Halle kann ich mich nicht erinnern, nur an den Urenkel von Richard von Volkmann, der als Chirurg und, unter dem Decknamen Richard Leander, als Verfasser von Märchen wie 'Träumereien an französischen Kaminen' bekannt wurde. Natürlich fragte jeder Lehrer unseren Volkmann, ob der in Halle sehr bekannte große Volkmann sein Vorfahre sei. So ist er mir im Gedächtnis geblieben." [S. 57]

Doch wieder zurück zu Harry Lichtenstein. Ihm fiel zum Thema "Schulzeit am Stadtgymnasium" noch folgender Fakt ein: Das Stadtgymnasium war Elitegymnasium in Halle. Man musste Schulgeld bezahlen. Es betrug 20 Mark. Dann kam ein Brief mit der Mitteilung, dass für Juden das Schulgeld nun 40 Mark betragen würde. Der Familie Lichtenstein fiel es sehr schwer, das Geld aufzutreiben. 

s. Fortsetzung Teil 2

Quellen:
- Gespräche, Briefe und Telefonate zwischen Harry Lichtenstein und B. Budnik
- Jürgen Reinhold "Erinnerungen", Essen 2000, Klartext (eine Kopie des Abschnittes zur Hallenser Schulzeit J. Reinholds ist im historischen Schularchiv vorhanden)

[Bk 24-03.12]

Wahrscheinlich wohnte die Familie Reinhold damals in diesem heute zum Diakoniewerk gehörenden Gebäude im Mühlweg