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DAS LANGE LEBEN DES HARRY LICHTENSTEIN
TEIL 2

Harry Lichtenstein kam, wie er uns erzählte, als Zehnjähriger an die Schule; er war also so alt wie die heutigen Fünftklässler. Er kam in die Sexta, die dem 5. Schuljahrgang entspricht. Es war das Jahr 1933. Sein damaliger Klassenraum war - nach seiner Erinnerung - der Raum im Erdgeschoss rechts neben dem Riehmbrunnen (jetzt Klassenraum der 5c). Die Schüler des Stadtgymnasiums trugen noch zu Beginn der NS-Zeit weiße Schulmützen (s. Teil 1 "Erinnerungen" von Jürgen Reinhold). Es gleicht fast einem Wunder, Harry Lichtenstein hat - trotz Flucht aus Deutschland und abenteuerlichen Wegen durch Frankreich - bis heute noch diese alte Schulmütze. Ebenfalls existiert noch ein Klassenfoto, wahrscheinlich 1933 aufgenommen, dass seine Klasse mit Lehrern vor dem alten Eingang zur Turnhalle zeigt.

Bei einem Treffen mit einem Lehrer, der unsere Französischschüler bei der Fahrt nach Paris begleitet, sollte eigentlich ein Treffen mit Herrn Lichtenstein in Paris stattfinden, bei dem er die alte Schulmütze zeigen wollte und eine Kopie des alten Fotos mitgeben wollte. Bedauerlicherweise wurde diese Chance verpasst!

1938 verließen zuerst der Vater von Harry Lichtenstein, dann er selbst und schließlich seine Mutter Deutschland und lebten dann illegal in Paris. Sein Klassenkamerad Jürgen Reinhold beschreibt in seinem Erinnerungsbuch das weitere Leben seines Mitschülers folgendermaßen: "Wir erfuhren, dass er, seinen Eltern folgend, 1938 illegal nach Paris gekommen und nach Kriegsbeginn zunächst als 'Deutscher' im Lager 'les Milles' interniert worden war, ungeachtet der Tatsache, dass er als Jude vor der deutschen Verfolgung geflohen war. Später gelang es ihm, in der Illegalität unterzutauchen." [S. 56] Zu seiner Flucht aus Deutschland erfuhren wir, dass Harry Lichtenstein beabsichtigte, im Saarland "über die grüne Grenze" zu gehen. In Saarbrücken angekommen fragte er in der jüdischen Gemeinde nach, wer ihm helfen könne. Man sagte ihm, obwohl es unglaublich erscheint, die Gestapo-Dienststelle könne ihm weiterhelfen. Die Sitatuation war zu diesem Zeitpunkt so, dass Nazi-Deutschland daran interessiert war, jüdische Bürger zum Verlassen des Landes zu bewegen, nachdem man ihnen finanziell alles abgenommen hatte, was möglich war. Harry Lichtenstein wagte den Schritt zur Gestapo und wurde, nachdem ein Gestapo-Beamter mit Halle telefoniert hatte, an die Grenze geführt und ihm wurde der Weg Richtung Frankreich gezeigt.  

Zur Flucht aus dem Internierungslager und vor der Gestapo in Marseilles sind uns im Moment keine weiteren Informationen bekannt. Wir hoffen, diese von Herrn Lichtenstein noch zu erhalten.

Zu seiner Tätigkeit danach bis zum Kriegsende schrieb uns Herr Lichtenstein: "Die einzige, authentische und legal strukturierte Einheit waren die 'Freien Franzosen', zusammengefasst unter dem Begriff 'Francais Libres', die 1940 in London geboren worden waren, von den Engländern ausgerüstet wurden und in Afrika und dem nahen Osten zum Einsatz kamen. Sie waren Armee, uniformiert und kämpften später mit den Engländern und Amerikanern, Kanadiern in Nordafrika und Italien, bis zur Landung der Alliierten, am 15. August 1944, in Südfrankreich. Zu dieser Armee gehörte ich, allerdings in Frankreich selbst, ohne Uniformen und unbewaffnet. Wir kamen ausschließlich für Spionage und Gegenspionage zum Einsatz, 'hinter feindlichen Linien' (im juristischen Sinne die Französische Küste). Wir gehörten der regulären französischen Armee an und waren, wie in allen Armeen - auch der Wehrmacht - mindestens Unteroffizier mit der Pflicht, sich monatlich besolden zu lassen. Es waren schlicht die französischen Geheimdienste. Passierte dem einen oder anderen ein Unglück, Verhaftung, Exekution, Deportation usw., so erhielt seine Ehefrau eine Kriegswitwenrente, was sie in der blossen 'Résistance' nicht beanspruchen konnte. Strengstes Verbot eine Waffe mit sich zu haben oder gar Sabotageakte zu begehen, denn dafür waren andere Einheiten da, mit denen wir nichts zu tun hatten und die wir auch nicht kannten. Zeitweilig hatte ich Befehl, mich auf der Préfecture in Draguignan anstellen zu lassen, wo ich inmitten der Höhle des Löwen zu besonderen Einsätzen kam und u.a. den Präfekten (Regierungspräsidenten) persönlich - als Vertreter der deutschhörigen Vichy-Regierung - zu überwachen, telefonisch abzuhören und verschiedene andere, feine Sachen. Unser Reichssicherheitshautpamt bezw. sein Gegenstück [Bk: H. L. meint hier die französische Geheimdienstzentrale] befand sich von 1940 bis Ende 1942 in London und von da ab in Nordafrika, nach der Flucht der Deutschen im August 1944 in Paris. In Paris allerdings in Uniform.
Also ein sehr, sehr abenteuerliches Leben, dermaßen abenteuerlich und jeden Augenblick mit Lebensgefahr verbunden, dass in unserer Personalakte der Armee jeder Monat doppelt als 1. Frontlinie berechnet wurde." So weit Harry Lichtenstein. Wir würden uns freuen, wenn wir noch weitere Details aus dem Leben dieses bemerkenswerten Menschen erfahren würden. 

Ergänzung v. 20.04.12: Herr Lichtenstein war so freundlich, uns aus Paris die Kopie eines Fotos seiner damaligen Klasse (VI B) von 1933 zu schicken, das auf dem Schulhof vor der Turnhalle aufgenommen wurde. Darauf sind 39 Jungs mit dem Klassenlehrer Dr. Achtzehn sowie eine dreieckige Fahne mit der Aufschrift "St. G. VIb" zu sehen. Des Weiteren erhielten wir von ihm ein Anschriftenverzeichnis der "Vereinigung alter Schüler des Stadtgymnasiums Halle a.S." aus dem Jahre 1970 mit 217 Namen. Großen Dank dafür!

Quellen:
- Gespräche, Briefe und Telefonate zwischen Harry Lichtenstein und B. Budnik
- Jürgen Reinhold "Erinnerungen", Essen 2000, Klartext (eine Kopie des Abschnittes zur Hallenser Schulzeit J. Reinholds ist im historischen Schularchiv vorhanden)
- MZ-Artikel von Silvia Zöller vom 17.08.2011 "80 Jahre Freundschaft"

[Bk 26-03-12] 

Harry Lichtenstein am 3. Februar 2012 vor der Schule 

Die Hinweise zum Erinnerungsbuch und dem MZ-Artikel stammen von Herrn Hans-Georg Ronniger aus Halle, dem wir hiermit dafür danken.

Im roten Haus rechts wohnte die jüdische Familie Lichtenstein bis zu ihrer Flucht aus Deutschland