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"ZEUGE WERDEN!" - EIN INTERVIEW

Frau Vogel, die auf verschiedenste Art und Weise zusammen mit ihrer Klasse das Projekt "Spurensuche" in der Vergangenheit unterstützt hat, will eine neue, unterstützenswerte Initiative, unter dem Motto "Zeuge werden!" an der Schule auslösen. Dazu einige Fragen an Frau Vogel.

1.       Erläutern Sie bitte kurz, wer an der Schule Zeuge wofür werden sollte.

Zeitzeugen, das liegt in der Natur der Sache, gibt es für die Ereignisse in der Geschichte der Menschen immer weniger. Uns helfen verschiedene Quellen, um uns an diese zu erinnern: Berichte, Bilder, Ton- und Filmdokumente, Fotos, Gegenstände. Um allerdings die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten, bedarf es besonderer Anstrengungen. Eine Stoffeinheit im Geschichtsunterricht und vielleicht noch Themen in Ethik/Religion, Sozialkunde oder Deutsch, die diese Ereignisse streifen, halte ich für zu wenig, um heutigen jungen Menschen ein exaktes Bild dieser Zeit zu vermitteln. Sie brauchen Hintergrundwissen und viele Möglichkeiten des Gesprächs und der Diskussion über diese Zeit. Noch können sie Zeitzeugen wie Prof. Max Schwab und Harry Lichtenstein befragen. Mit diesen Erfahrungen und Erkenntnissen aus ihren umfangreichen Recherchen sollen sie die neuen Zeitzeugen werden.

2.       Wie kamen Sie zu dem Motto "Zeuge werden!"?

Für unser Projekt einer interaktiven Ausstellung für Schüler haben wir viele Biografien gelesen (Eine Bibliografie und Bibliothek wird Teil der Ausstellung sein.) In dem Buch „Nirgendwo und überall zu Haus“, Gespräche mit Überlebenden des Holocaust von Martin Doerry, stieß ich auf eine Formulierung von Elie Wiesel, der vor dem Hintergrund der immer weniger werdenden Zeitzeugen sagte: „Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selber ein Zeuge werden!“. Für unsere Ausstellung wählten wir den Titel „Zeuge werden!“ als Aufforderung und halten ihn auch für ein schulübergreifendes Arbeitskonzept passend.

3.       Wie stellen Sie sich die Umsetzung vor?

Das geplante Konzept setzt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen, die jedes Team individuell zusammenstellen kann. Die Frage aus meiner Sicht dabei ist nicht ob, sondern wie frühzeitig genug Schüler für die Thematik sensibilisiert werden.

Baustein 1
Organisationsformen Tutorenstunden
Projekttage
Projektwochen
Fachunterricht
Exkursionen
Kinobesuche
Themen Das Tagebuch der Anne Frank
„entartete“ Musik/Kunst
Stolpersteine
Schülerbiografien in unserem Schulgebäude
Schüleraktivitäten Recherche
Führungen/Rundgänge
organisieren Vorträge erarbeiten
 
Baustein 2
Organisationsformen Ausstellung (im Klassenraum)
Arbeitsgemeinschaft
Themen Stolpersteine
Sobibor
Verfolgung von Andersdenkenden und Randgruppen Konzentrationslager
Die Familie Feuchtwanger
Zeitzeugen
Schüleraktivitäten Besuch der interaktiven Ausstellung
Erweiterung der Ausstellung
 
Baustein 3
Organisationsformen Schul- und Studienfahrten
Zielorte Buchenwald Bernburg Dora Auschwitz
Schüleraktivitäten Besuch der Gedenkstätten
Recherche zu Personen oder Inhalten
Treffen mit Zeitzeugen
Treffen mit polnischen Jugendlichen

 4.       An wen genau richtet sich die Aufforderung?

Wir wünschen uns, dass unsere Schüler couragiert und demokratisch  handeln und tolerant gegenüber Andersdenkenden und Migranten auftreten. Das Vermitteln dieser Grundhaltungen sollte uns allen ein Bedürfnis sein. Einen Anfang bildet dabei die Auseinandersetzung mit der Geschichte.

5.       Ist der angesprochene Problemkreis nicht schon Unterrichtsgegenstand und muss nicht noch zusätzlich bearbeitet werden?

Wie schon gesagt, wird im Fachunterricht bereits an diesen Themen gearbeitet, aber für Recherchen und Rundgänge zu Stolpersteinen braucht man mehr Zeit, die im Fachunterricht immer begrenzt ist. Und kein Fachunterricht kann die Gefühle vermitteln, die jeden einzelnen befallen, wenn er durch das Tor eines Konzentrationslagers tritt oder an einem eiskalten Frühlingstag bei ununterbrochenem Regen sieht, welche Kleidung KZ-Häftlinge tragen mussten.

6.       Was würden Sie sich als Ergebnis der Initiative wünschen?

Ich wünsche mir, dass jedes Team sich spätestens ab dem 8 Jahrgang der Problematik widmet. Warum ist mir so wichtig, dass dies frühzeitig geschieht? Ich werde den Tag auf der Klassenfahrt mit meiner ersten Klasse nie vergessen. Ich trug Turnschuhe einer Markenfirma. An der Seite hatten sie ein eingenähtes N. Als ich im Kreis meiner Schüler, wartend auf die Nachzügler, nach unten sah, trugen sehr viele ähnliche Schuhe. Dabei muss man sich nicht unbedingt etwas denken. Doch sie klärten mich schnell auf. Zu diesem Zeitpunkt bildeten diese Schuhe ein Erkennungszeichen extremer Gruppen und das N stand für Nationalsozialismus. Ich erfuhr, dass sie bereits in entsprechenden Gruppierungen aktiv waren. Bis zum Abschluss der 10. Klasse bemühte ich mich, im Deutsch- und Musikunterricht aufzuklären, ihre Haltungen zu diskutieren, wahrscheinlich erfolglos. In diese Situation möchte ich nicht mehr kommen.

Vielen Dank für die ehrliche Beantwortung der Fragen.
Das Gespräch führte B. Budnik.

[Vo/Bk 27-03-13]