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PROJEKTFAHRT NACH ARCHANGELSK (RUSSLAND)

Bisherige Erkenntnisse: Bei den historischen Studien zur Geschichte unseres Schulgebäudes im vergangenen Jahr stießen wir auf die bewegte Lebensgeschichte des Abiturienten des Stadtgymnasiums Ernst Gottwalt Nicolas. Erst beim zweiten Anlauf konnte er das Abitur während der Novemberrevolution in Halle in unserem jetzigen Schulgebäude ablegen. 
Hinweis: auf vielen Internetseiten zu Ottwalt findet man seinen Namen falsch geschrieben (Ottwald statt Ottwalt). Zu beachten ist, dass dies sein Künstlername war. 
In seinem in den zwanziger Jahren veröffentlichten Roman "Ruhe und Ordnung" (Einbandillustration von John Heartfield) geht Ottwalt an verschiedenen Stellen auf das von ihm besuchte Gymnasium ein. Eine digitale Version kann hier eingesehen werden.  Kurt Tucholsky veröffentlichte eine Rezension zu diesem Buche. 
In der Wikipedia findet man ebenfalls einen Artikel über Ottwalt. 
1932 schrieb Ottwalt zusammen mit Bert Brecht und Slatan Dudow das Drehbuch zum Film "Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?". Einen 6minütigen Filmausschnitt findet man bei Youtube. Zu diesem sozialkritischen Film gibt es im Netz ein Dokument der damalilgen Filmprüfstelle, die über ein Verbot des Filmes zu entscheiden hatte. Ernst Ottwalt spielt im Film selbst eine kleine Nebenrolle (einen Gerichtsasessor). Stalin wurde in den 30er Jahren ebenfalls der Film gezeigt, den er nicht für sehenswert hielt, da - aus seiner Sicht - das deutsche Proletariat nicht revolutionär genug dargestellt wurde. Weitere, vor allem gegen die aufkommende Naziideologie gerichtete Bücher und Artikel Ottwalts führten dazu, dass er schon 1933 nach dem Reichstagsbrandprozeß verhaftet werden sollte. Einige seiner Werke fielen auch der Bücherverbrennung der Nazis zum Opfer. Nachweislich ist eine Anordnung für die Stadt Dessau aus dem Jahre 1933, den Roman "Ruhe und Ordnung" aus dem öffentlich zugänglichen Bestand zu nehmen (s. auch "Liste der verbrannten Bücher" in der Wikipedia). 
Da die GESTAPO einen "Ernst Ottwalt" und nicht "Ernst Gottwalt Nicolas" suchte, gelang ihm die Flucht - zuerst gemeinsam mit Bert Brecht und Helene Weigel auf eine dänische Insel und schließlich in die Sowjetunion. In Moskau lebend veröffentlichte er Artikel in der Exilpresse. 

1936 gelangten auch Ernst und Waltraud Nicolas in die Fänge der stalinschen Häscher. In einem Spiegel-Artikel wird die Zeit charakterisiert und auf den "Fall Ottwalt" hingewiesen. Neun Monate nach der Verhaftung haben sich die Eheleute auf einem Transport nach Stalingrad (s. Raddatz-Artikel in der ZEIT v. 30.09.77) wohl das letzte Mal gesehen. Bis 1939 befanden sich beide in Untersuchungshaft, danach in sogenannten "Besserungslagern" im Norden der damaligen Sowjetunion. Beide wurden in einem ersten Verfahren zu 5 Jahren Lagerhaft verurteilt. Waltraud Nicolas musste bis 1940 im Lager Kotlas im Gebiet Archangelsk arbeiten, bevor sie im Rahmen eines geheimen Paktes zwischen der Sowjetunion und Nazideutschland ausgeliefert wurde. Die russische Organisation "Memorial" verweist in einer Übersicht über Straflager zur Stalinzeit auf Waltraud Nicolas als Häftling im Lager "Nördliches Eisenbahn ITL". Über Ernst Ottwalt ist bekant, dass er im Lager Kuloi ITL inhaftiert war. In Deutschland wurde Ottwalts Frau wegen Hochverrats noch einmal verurteilt. Sie hat wohl diese Haft nicht antreten müssen. Es liegt die Vermutung nahe, dass sich Waltraud Nicolas mit den Nazis auf eine Deal eingelassen hat: 1942 und 1943 sind von ihr unter Pseudonym (Irene Cordes) Bücher in Deutschland über ihre Haft in sowjetischen Straflagern erschienen. Diese sollten wohl propagandistisch verwendet werden. Sie überlebte den Krieg, lebte dann in Westdeutschland und versuchte das Schicksal ihres Ehemannes nachzuverfolgen. Ende der 50er Jahre erhielt Waltraud Nicolas über das Rote Kreuz die Nachricht, dass ihr Ehemann am 24. August 1943 in einem Lager beim Dorf Talagi in der Nähe von Archangelsk verstorben sei. Dokumente über seine letzten Lebensjahre waren ihr nicht zugänglich (sie starb 1962 in Bad Godesberg). 1945 zitierte der sowjetische Hauptankläger Rudenko bei den Nürnberger Prozessen aus einem der Bücher Ottwalts. Im Dokumentationsband zum Prozess wurde sein Name jedoch weggelassen.
Der westdeutsche Autor Andreas W. Mytze hatte in den 70er Jahren das Leben des Ernst Ottwalt recherchiert und in einem Buch zusammengefasst (Verlag Europäische Ideen). Auch ihm war es nicht möglich, russische Quellen zu studieren.  


Weitere Quellen im Internet:

  • "Ottwalt - Eine Karriere" in Zeitonline (1977)
  • "Memorial"-Karte über die Straflager im Gebiet Archangelsk (interaktiv)
  • Das virtuelle Gulagmuseum der Organisation "Memorial 
  • Museum in Archangelsk mit Fundstücken aus dem Lager Kuloi Lag
  • Die Bücher "Ottwalt" von Andreas W. Mytze, "Hier wird Gott dunkel" und "Viele tausend Tage" von Waltraud Nicolas sind im Besitz des Spurensuche-Archivs und können dort ausgeliehen werden
Zielstellung:
Die Partnerschaft mit der Schule Nr. 14 in Archangelsk und die Förderung des Ottwalt-Projektes durch die Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch machen es möglich, dass erstmals eine Schülergruppe aus der IGS.Halle nach Archangelsk reist.  
Eine Aufgabe der Reise ist es, weitere Quellen über das Schicksal des Ernst Ottwalt zu finden. Da nach damaliger sowjetischer Gesetzgebung die Personalakten ausländischer Häftlinge unbegrenzt aufzubewahren waren und ein Teil der Archive im heutigen Russland für Recherchen offen sind können wir durchaus neue Ergebnisse erwarten.

[Bk 10-09-09]

 Übersichtskarte zum Lagersystem in der damaligen Sowjetunion (besonders während der Stalinzeit) 

Quelle: http://azer.com/aiweb/categories/magazine/ai141_folder/141_articles/141_stalins_death.html