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DIE HALLESCHE JÜDISCHE FAMILIE FACKENHEIM UND DAS STADTGYMNASIUM

Einem Hinweis von Frau Ingeborg v. Lips folgend, wurde das Riehmsche Adressverzeichnis des städtischen Gymnasiums in Halle nach dem Familiennamen "Fackenheim" durchsucht. Wir wurden viermal fündig. Die Abituerienten mit den Nummern 636, 676, 1612 und 1658 tragen diesen Namen. Internetrecherchen ergaben, dass die Abiturienten

- Julius Fackenheim (Abitur 1902, Nr. 676),
- Emil L. Fackenheim (Abitur 1935, Nr. 1612) und
- Wolfgang Fackenheim (Abitur 1936, Nr. 1658)

aus ein und der gleichen Familie stammen. Die beiden letzteren sind die Söhne des Rechtsanwalts und Notars Julius Fackenheim, der zumindest zwei seiner Söhne an die gleiche Schule brachte, die auch er besucht hatte (s. Interview unten). Vater Julius Fackenheim hatte zusammen mit Adolf Goldberg* in der Großen Steinstr. 12 eine Anwaltskanzlei. Der älteste Sohn, Ernst-Alexander (1938 wohnhaft in Berlin, dort verstorben [s. Gedenkbuch für die Toten des Holocaust in Halle; Erna Goldberg, geborene Fackenheim]), scheint kein Abitur am Stadtgymnasium gemacht zu haben.  

Vom jüngsten Sohn, Wolfgang, ist nur bekannt, dass er nach England emigrierte und dort verstarb [s.o.].




Frühere Wettiner Str. 17 - ehem. Wohnhaus der Familie Fackenheim
(gegenüber der Stephanuskirche)

Die meisten Internettreffer erhält man zu "Emil Fackenheim". Wie ging das Leben dieses Abiturienten weiter, nachdem er 1935 sein Reifezeugnis erhalten hatte?  Man gelangt unter anderem auf die Seiten der Jüdischen Gemeinde zu Halle, die seit 2003 einen "Emil-L.-Fackenheim-Preis für Toleranz und Verständigung" vergibt. Max Privorozki, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle, bezeichnit den Rabbiner Professor Emil Ludwig Fackenheim in seiner Rede v. 09.11.2004 anl. der Verleihung des Preises als "wohl berühmtesten Sohn unserer Gemeinde" [Quelle].
An wen wurde der Preis für Toleranz und Verständigung bis jetzt vergeben?
2003: an Dr. Gerhard Begrich
2005: an den Interessenverband Verfolgter des Naziregimes
2007: an Gudrun Goeseke
2010: an das Judaistik-Seminar der MLU Halle/Wittenberg
Nach Angaben der Jüdischen Gemeinde weilte Emil Fackenheim seit der Wende mehrfach in Halle.

Die Hallesche Universität, die den Emil Fackenheim 1937/38 als Studenten führte (F. wurde 1938 zwangsexmatrikuliert), bezeichnet Fackenheim als "einflußreichen Philosophen auf dem Gebiet der Holocaust-Forschung" und verlieh ihm 1999 die Ehrendoktorwürde [Quelle].  

Das "Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon" macht folgende biografische Angaben über E. L. Fackenheim:
- 1916 in Halle (Saale) geboren
- gestorben am 19. Sept. 2003 in Jerusalem
- war einer der bedeutendsten jüdischen Denker des 20. Jh. 
- während der Reichsprogromnacht am 9. November 1938 verhaftet und im KZ Sachsenhausen bis zum 8. Febr. 1939 interniert (F. erhielt die Auflage, Deutschland innerhalb von 6 Wochen zu verlassen)
- F. emigrierte nach Schottland und danach nach Kanada (Erg.: Emigration zusammen mit dem Bruder Wolfgang; der älteste Bruder emigrierte nicht und wurde Opfer des Holocaust; die Eltern folgten am 24. August ihren Kindern)
- 1943 bis 1948 Rabbiner im Temple Anshe Sholom, einer Reform Synagoge in Hamilton, Ontario
- 1948 bis 1983 Professor für Philosophie an der University of Toronto
- Übersiedlung nach Jerusalem
- Fellow am Institute of Contemporary Jewry an der Hebräischen Universität 


Gr. Steinstr. 12
Ehemalige Rechtsanwaltskanzlei der RA Julius Fackenheim und Adolf Goldberg 

Im Buch "Jüdische Porträts - Photographien und Interviews von Herlinde Koelbl" (S. Fischer Verlag), äußert sich E. Fackenheim zu seiner Kindheit und Jugend in Halle:

"Unsere Familie hatte schon lange als nichtassimilierte jüdische Familie in Deutschland gelebt, ... und dann eben in Halle, wo mein Urgroßvater schon Rabbiner war. ... Wir haben eben das liberale Judentum als unseren Standort gesehen und dachten, es hatte in Deutschland einen festen Platz Damit haben wir uns gewaltig geirrt, aber so dachten wir damals. ... Die jüdische Gemeinde in Halle war eine kleine, der Rabbiner war nicht sehr inspirierend. ... Ich habe seither nie wieder eine Synagoge gefunden, wo ich mich wirklich zu Hause gefühlt habe. Die Musik war anders, die Tradition war anders. In solchen Dingen ist man von der Kindheit geprägt. Diese deutsch jüdische Kultur ist dann untergegangen. ... Ich war in Halle noch ganz selbstverständlich auf demselben Gymnasium wie mein Vater vor mir. Wir hatten sogar zum Teil dieselben Lehrer. Und später, 1939, als ich schon in Sachsenhausen gewesen war und noch eine Sechswochenfrist hatte, das Land zu verlassen, als möglichst niemand mit mir zusammen gesehen werden wollte, da hat mein Griechischlehrer mich zu sich nach Hause eingeladen. Er hatte zwei gewidmete Exemplare von Martin Bubers »Königtum Gottes«, eins für sich selbst, eins für mich. Und er hat mir gesagt, Sie müssen jetzt weg, aber Sie müssen mir versprechen, wieder zurückzukommen. Deutschland wird zerstört werden, und wir brauchen solche Leute wie Sie, um es wieder aufzubauen. Ich habe ihm damals geantwortet, daß ich ihm das zwei Jahre früher noch versprochen hatte. Daß ich aber inzwischen wußte, daß das jüdische Volk mich wohl dringender brauchen würde als das deutsche. Auch mir war damals schon völlig klar, daß Deutschland zerstört werden würde, es ist verrückt. Wenn ich heute trotz allem überhaupt noch von Heimat reden kann, dann meine ich damit Jerusalem."

Es wäre schön, wenn wir den Namen des damaligen Griechischlehrers des Stadtgymnasiums, von dem Emil Fackenheim spricht, herausfinden könnten.



*) Am Hansering 17 (Parkplatz der Sparkasse) wohnten Adolf und Erna Goldberg (geb. Fackenheim; Schwester von Julius F.) - hier wurden Stolpersteine für die Goldbergs gesetzt

[Bk 03-02-11] 

PUBLIKATIONEN VON E. L. FACKENHEIM

Auszüge aus der englischsprachigen Autobiographie Emil L. Fackenheim  findet man im Artikel "Die Autobiographie Emil L. Fackenheims" 

Auskunft der Yad Vashem Datenbank über Julius Fackenheim (Link