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EIN WEITERER BERICHT ÜBER DAS TREFFEN MIT H. LICHTENSTEIN IN PARIS

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Vom 24. bis 28. September 2012 war unsere Fahrt nach Paris  geplant. Etwa drei Wochen früher erfuhr ich, dass ein ehemaliger Schüler der IGS in Paris lebte. Dieser Schüler, Harry Lichtenstein genannt und heute 90 Jahre alt, hat ein besonderes Verhältnis zu unserer Schule. Schon vor zwei Jahren besuchte er, während eines Aufenthaltes in Halle, kurz meinen Unterricht. Später lief er im Schulgebäude noch Herrn Budnik über den Weg, der als Schulgeschichtsforscher natürlich sofort viele Informationen sammelte und mit ihm in Kontakt blieb. Im Rahmen Projekts von Frau Vogel, bei dem Schüler u.a. Zeitzeugen des Holocaust suchen, war ich der Meinung, dass das Treffen stattfinden musste. Eine Woche vor unserer Abreise habe ich Herrn Lichtenstein einen Brief auf Französisch gefaxt, in dem ich mein Handynummer angegeben hatte, damit er mich dort jeder Zeit anrufen könnte. Mehr konnte ich erst einmal nicht machen. Aber nur ein paar Stunden später sah ich, er hatte schon versucht, mich mehrmals anzurufen. Ich rief ihn sofort zurück. Aber in welcher Sprache? Herr Lichtenstein fing immer an auf Deutsch zu reden, ich redete auf Deutsch weiter. Manchmal führte er sein Gespräch auf Französisch fort, dann sprach ich weiter auf Französisch. Wir haben uns trotzdem prächtig verstanden. Am Telefon vereinbarten wir ein Treffen am 27. September um 11.30 in seinem Büro am Place de la République mit zwei Schülern. Ich war auf das Treffen gespannt. Als Annalena, Stefanie und ich vor der Tür standen, gab es eine böse Überraschung, die Klingeln fehlten. Außerdem hingen auch keine Namensschilder aus. Was konnten wir tun? Ich versuchte Herrn Lichtenstein anzurufen, aber niemand nahm ab. Herr Lichtenstein musste aber da sein, da wir verabredet waren. Ich hatte das Gefühl, er war da. Ein Auto parkte unerlaubterweise direkt vor der Haustür. Ich wusste, er konnte nicht gut laufen und fährt aber noch Auto. Es konnte nur seins sein. Herr Lichtenstein hatte mir am Telefon erzählt, er würde die Schüler und mich zum Pizza essen einladen. Ich schaute um mich herum und entdeckte ein kleines Cafe, in dem man Mittag essen könnte. Vielleicht wollte er dort essen. Ich ging mit den Mädchen hinein, um eine heiße Schokolade zu trinken. Ich fragte sogar den Kellner, ob er Herrn Lichtenstein kannte. Jeder kennt sich doch in solchen kleinen Pariser Vierteln! Herr Lichtenstein war unbekannt. Enttäuscht und traurig beschlossen wir zu gehen. Es konnte nicht wahr sein! Ich ging noch einmal vor die Tür und versuchte, an den Briefkasten heranzukommen. Herr Budnik hatte doch noch ein Geschenk für seinen Freund Harry. Plötzlich ging die Tür. Wir erkannten uns sofort wieder. Herr Lichtenstein wollte, mit einer Zigarette in der Hand, gerade gehen, weil er dachte, wir kommen nicht mehr. Er hatte auf uns auf dem Flur gewartet, aber nie die Tür aufgemacht! Deswegen war er nicht telefonisch erreichbar. Zum Glück haben wir uns getroffen. Ich sprach ihn wegen der Zigarette an. Ist es mit 90 vernünftig zu rauchen? Ich bereute meine Frage, auch wenn ich sie mit Humor gestellt hatte. Er lud uns in seine kleine Kanzlei ein und zeigte uns sofort den wunderbaren Blick über die Dächer von Paris. Alle Hauptsehenswürdigkeiten waren von seinem Balkon zu sehen.Dann zeigte er uns alle Bildern und Urkunden, die an der Wand hingen. Darüber erzählte er mit großem gerechtfertigten Stolz, über sein Leben und seine Frau, seine Söhne und seine Enkelkinder. Herr Lichtenstein hat ein faszinierendes Leben gehabt. Eine Mischung aus Drama, Trauma, Glück und trotzdem Erfolg.  Die Flucht aus Deutschland war ein Trauma. Seine Kinder haben die deutsche Sprache nicht gelernt. Er wollte es nicht. Paradox ist, er kann immer noch wunderbar Deutsch sprechen. Er sagt zwar, er spricht ungern Deutsch, aber er hat die Sprache nicht verlernt. Ich hätte noch stundenlang Herrn Lichtenstein zuhören können. Er machte manchmal eine kurze Pause beim Erzählen und erklärte, es wäre das Alter, sein Gedächtnis ist nicht mehr so fit. Alle Daten und Details habe ich nicht bemerkt, aber die Schülerinnen Annalena und Stephanie machten sich Notizen. Ich muss zugeben, ich habe Herrn Lichtenstein die ganze Zeit bewundert und hatte das Gefühl, ich sitze vor einem „un grand homme“ (großen Mann).Nach dem Interview hat er uns eingeladen, Pizza zu essen. Wir liefen ein paar Meter. Selten sind 90jährige, die noch so gut laufen können wie Herr Lichtenstein. Er geht regelmäßig in dieser Pizzeria, der Chef und die Kellnerin kannten ihn ziemlich gut. Herr Lichtenstein erzählte mit Stolz, dass wir aus seiner ehemaligen deutschen Schule kamen und warum wir ihn sehen wollten. In diesem Moment fragte ich mich, ob Herr Lichtenstein seine Vergangenheit verdrängt hatte oder nicht. Wissen die Leute, dass er ursprünglich ein deutscher Jude ist? Die Frage sollte ich mir für das nächste Treffen aufheben. Er hat uns versprochen, er kommt noch einmal nach Halle zu Besuch.Nach dem Essen bestand Herr Lichtenstein darauf, die schönen roten Haare von Annalena anzufassen und sich auf die französische Art zu verabschieden. Er küsste sie nämlich auf die Wangen wie ein richtiger Franzose. So eine Aktion ist natürlich etwas Eigenartiges für junge Mädels.Das Treffen mit Herr Lichtenstein hat mich nicht nur wegen der großen Geschichte und seiner persönlicher Geschichte begeistert, sondern auch auf der menschlicher Ebene. Er ist jetzt über 90. Er spricht klar und verständlich, er kann in Paris Auto fahren, er lebt selbstständig, er hat kaum Falten, er trägt keine Brille, er läuft gut und er arbeitet noch in seiner Kanzlei. Er hat zwar seine Frau verloren und ist auch sehr traurig darüber. Aber so einen Zustand und eine Gesundheit mit 90 Jahren! Wahnsinn!

Monsieur Lichtenstein, vous êtes vraiment un grand homme!Ich freue mich schon darauf, Herrn Lichtenstein wiederzusehen.
[07-11-12]