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BUCHLESUNG ZU EMIL L. FACKENHEIM* IM MARTHAHAUS

Am 14. Juli 2011 fand eine Buchlesung im Marthahaus statt, die mit der Geschichte des Schulstandortes in enger Beziehung steht: Frau Erika Wielebinski las eine Übersetzung von Passagen der Autobiografie Emil Fackenheims vor. Die Übersetzung wurde von ihr selbst angefertigt, da die Autobiografie nur in englischer Sprache existiert. Sie bezog sich auf Stellen, die mit der Schulzeit Fackenheims im Stadtgymnasium zu tun hatten.  Die Idee entstand, als Frau Wielbinski im Lesebuch von Frau v. Lips "Halae ad Salam" das Bild des Stadtgymnasiums aus dem Jahre 1903 sah (es ist eine historische Postkarte, die die Autorin des Lesebuches aus unserem historischen Schularchiv zur Veröffentlichung bekam). Die AG "Spurensuche" konnte Frau Wielebinski in Vorbereitung der Veranstaltung dahingehend unterstützen, indem ihr die englischsprachige Biografie aus dem Archiv zur Verfügung gestellt wurde.

Frau Wielebinski zitierte aus einem in deutscher Sprache erschienenen Buchg Emil L. Fackenheims "Was ist Judentum - eine Deutung für die Gegenwart"** (Berlin 1999): "Als ich - aus dem KZ enlassen - nach Halle zurückkam, setzte ich mich mi tkeinem meiner 'arischen' Freunde mehr in Verbindung, denn das war ja für sie gefährlich geworden. (Mehr als drei Jahre nach dem Abitur [Erg. BB: also 1939] hatte ich ohnedies schon die Verbindung mit allen verloren, mit Ausnahme von Jürgen Wenzlau, und der ist dann an der russischen Front gefallen, im für ihn falschen Krieg.) Aber Dr. Adolph Loercher rief mich an und sagte, er würde mir nie vergeben, wenn ich ihn nicht vor meiner Flucht besuchte. Unter meinen Lehrern im Stadtgymnasium Halle waren zwar die meisten keine Nazis, aber Loercher, mein Griechisch-Lehrer, war der einzige ausgesprochene Gegner der Nazi-Machthaber, und zwar als Christ und deutscher Patriot. Während der Jahre 1933-35 bedeutete Dr. Adolph Loercher  weit mehr für mich, als Hitler mir rauben konnte. Er lehrte nich nicht nur, das Griechentum zu schätzen, sondern auch den Einfluß, den es einst auf Deutschland hatte. (In den dunklen Jahren, die kamen, konnte ich schon seinetwegen nie Anti-Christ oder Anti-Deutscher sein.) ...
Dann sagte Adolph Loercher das Folgende: 'Seit 1933 habe ich Ihnen gesagt: Gehen Sie nicht weg, die Nazi-Krankheit wird vorbeigehen. Jetzt aber müssen Sie weg. Aber Sie müssen mir versprechen, wieder zurückzukommen. Deutschland wird zerstört werden, und wir werden Sie brauchen, es wieder aufzubauen.' Ich erinnere mich an seine Worte beinahe wörtlich, aber auch an meine damalige Antwort: 'Herr Dr. Loercher, ich habe Ihnen noch nie widersprochen, jetzt aber muß ich es. Vor zwei oder drei Jahren hätte ich vielleicht noch gesagt, 'ja, ich komme zurück', aber nach dem, was ich im KZ erfahren habe, weiß ich, daß das jüdische Volk mich mehr brauchen wird als das deutsche. Deutschland wird zerstört werden, aber andere müssen es wieder aufbauen.' Die Katastrophe wurde viel schlimmer, als es 1939 jemand hätte ahnen können. ... Jetzt, mehr als ein halbes Jahrhungert später, wohne ich, meiner Antwort gemäß, in Jerusalem, inmitten jüdischer Geschichte. Aber wieso bin ich in Deutschland - nicht nur, wie bisher, für ein paar Tage, sondern für ein ganzes Semester? Ist es, um den Rat meines alten Lehrers doch zu folgen, zu helfen, Deutschland wieder aufzubauen? Nein, dies kann nur von denen getan werden, die hier leben. Ich gehöre nicht mehr zur deutschen Geschichte." [S. 260f.]

Eine 85jährige Dame erinnerte sich an ihre Kindheit in Leipzig zur Nazizeit und erzählte, dass an einem Denkmal für einen jüdischen Künstler, dessen Statue abgetragen worden war und nur noch der Sockel stand, regelmäßig heimlich Blumen niedergelegt wurden und das ihr von den Eltern erklärt wurde.

Die Veranstaltung, die im Rahmen von "Halle liest - deutsch-jüdische Literatur aus Halle" durchgeführt wurde, kann als gelungene Ergänzung an einem würdigen Platz angesehen werden. Auch die AG "Spurensuche" der IGS.Halle bedankt sich dafür.

Quellen:
- "Was ist Judentum? - Eine Deutung für die Gegenwart", Emil L. Fackenheim, Berlin 1999, Veröffentlichungen aus dem Insitut Kirche und Judentum Band 27
- "An Epitaph for German Judaism - From Halle to Jerusalem", Emil Fackenheim, The University of Wisconsin Press 2007 [Autobiographie in engl. Sprache - im Besitz des histor. Schularchivs der IGS]

* Emil L. Fackenheim war Abiturient Nr. 1612 des Stadtgymnasiums (Abitur Ostern 1935), sein Bruder Wolfgang war Abiturient Nr. 1658 und machte sein Abitur Ostern 1936; der jüngere Bruder Alexander verließ die Schule ohne Abitur
**Emil Fackenheims Widmung dieses Buches: "Dem Andenken an Adolf Goldberg, meinem Onkel. Freiwilliger im Ersten Weltkrieg. Schwerverwundet und Invalide. Ermordet auf Himmlers Geheimbefehl in der Kategorie 'Schwachsinnige und Verkrüppelte Häftllinge' am 14. März 1942"; Emil 'Fackenheims Vater, Julius (Abiturient des Stadtgymnasiums mit der Abiturientennr. 676), hatte mit A. Goldberg zusammen eine Rechtsanwaltskanzlei in der Gr. Steinstr.; Adolf Goldberg wohnte zusammen mit seiner Frei Erna, geborene Fackenheim, im Hansering 17 (heute Parkplatz der Sparkasse) - davor findet man für beide Goldbergs Stolpersteine 

[Bk 14-07-11]

Die Übersetzung aus dem Englischen von Auszügen aus dem Buch "Kein falsches Bild" von Frau v.Lips bzw. aus der englischsprachigen Autobiografie Emil L. Fackenheims kann - mit freundlicher Genehmigung von Erika Wielebinski - hier gedownloadet werden 

Aus diesem Buch stammt das links aufgeführte Zitat (Buch Eig. Frau Wielebinski)